Veröffentlicht am 29. Mai 2017 von ventilator
CRYSTAL METH, MEPHEDRON, ALKOHOL…
Die Interviewpartnerin möchte aus persönlichen Gründen nicht namentlich genannt werden.
CRYSTAL METH, MEPHEDRON, ALKOHOL…
EIN VENTIL-INTERVIEW ÜBER SUBSTANZGEBUNDENE ABHÄNGIGKEITEN UNSERER GESELLSCHAFT
INTERVIEW
SONJA JAMBROVIC
26.05.2017, 12.00
VENTIL: Womit beschäftigst du dich? Was ist dein Fach?
A: Ich beschäftige mich mit Psychiatrie, genauer gesagt
Psychiatrie und Psychotherapie. So heißt das Fach, wenn man mit der
Ausbildung fertig ist.
Das ist die neue Bezeichnung. Vormals war man Arzt für Psychiatrie, jetzt Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
VENTIL: Was hast du von deinem Medizinstudium als
besonders mühevoll in Erinnerung? Gab es ein Fach, das du besonders
schwierig gefunden hast?
A: Sehr anstrengend waren natürlich die drei großen
Prüfungen im alten Studienplan. Das waren Anatomie, Pathologie und
Innere Medizin, für die man im Schnitt sechs Monate bis zu einem Jahr
lernen musste.
VENTIL: Siehst du in der Ausbildung Schwachstellen? Kommt man nicht erst sehr spät in die Praxis?
A: Jetzt kommen sie früher in die Praxis als wir im
alten Studienplan. Mittlerweile hat man ein praktisches Jahr am Ende des
Studiums. Eigentlich sind sie da noch Studenten, arbeiten aber auf
Stationen. Das passiert trotzdem erst am Ende des Studiums.
VENTIL: Was ist im Vergleich zur alten Ausbildung
nun richtig schwierig? Gibt es auch Positives, das sich aus der neuen
Ausbildung entwickelt hat?
A: Eine richtige Hürde ist die Aufnahmsprüfung.
Mittlerweile sind das eine Art Intelligenztests, bei denen es nicht mehr
nur um naturwissenschaftliches Wissen und naturwissenschaftliches
Verständnis geht. Im Vorfeld gibt es Vorbereitungskurse, die viel Geld
kosten. Das Studium ist wie ein Schulsystem aufgebaut. Man hat oft
geregelten Unterricht über den Tag verteilt. Das war früher anders. Man
konnte die Vorlesung besuchen, es war aber nicht verpflichtend. Studium
und Kind, wie ich das hatte, sind heutzutage kaum zu vereinbaren. Jetzt
hat man Anwesenheitspflicht, lernt in Modulen …für die Pathologieprüfung
sind das etwa drei Wochen.
Ein Student hat mir unlängst erzählt, man nenne das „bulimisches Lernen“. Man lernt und kotzt es danach wieder aus.
Das alles bringt auch eine ganz neue Ärzteschaft mit sich.
Die neuen Ärzte sind selbstbewusster, sie bestehen auf ihr Recht auf Ausbildung. Sie fordern mehr. Hirarchien weichen sich auf.
VENTIL: Womit beschäftigst du dich tagtäglich?
A: Mit Suchtkrankheiten – Alkohol, illegalen
Substanzen, Spielsucht, also „pathologischem Glücksspiel“, wie sich die
Krankheit eigentlich nennt. Ich beschäftige mich auch mit Angststörungen
und Depressionen, die aber meistens mit der Sucht einhergehen. Man
nennt das Komorbiditäten. Bei Suchterkrankungen finden sich sehr häufig
solche. Oft werden beispielsweise Depressionen von den Betroffenen mit
Suchtmitteln behandelt. Zu einem hohen Prozentsatz geht Sucht mit einer
psychischen Erkrankung einher.
VENTIL: Beobachtet man auch Umgekehrtes? Das heißt, dass sich eine psychische Erkrankung aus einer Sucht entwickelt?
A: Ja, zum Beispiel Depressionen und Angsterkrankungen sind ganz typisch dafür.
VENTIL: Was steckt deiner Meinung nach dahinter,
wenn es zu einem Suchtproblem kommt? Sieht man Ähnlichkeiten in den
Biografien der Menschen, mit denen du arbeitest?
A: Sehr häufig sind es Menschen mit schlechten
Startbedingungen. Menschen mit schwieriger Kindheit und
posttraumatischen Belastungsstörungen. Häufig kommen sie auch aus
Familien, in denen bereits eine Suchterkrankung vorliegt. Für die
Entstehung der Alkoholkrankheit ist aus heutiger Sicht eine Trias aus
biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren verantwortlich.
VENTIL: Lässt sich Sucht einem Geschlecht zuordnen?
A: Bei der Alkoholkrankheit sind es laut Statistik mehr
Männer, aber die Frauen, und das sieht man auch bei den Jugendlichen,
holen deutlich auf.
VENTIL: Arbeitest du nur mit erwachsenen Patienten?
A: Ja, mit Patienten über 18. Die jüngeren werden auf der Kinder.- und Jugendpsychiatrie behandelt.
VENTIL: Sind bei euch auch Essstörungen ein Thema?
A: Ja, sind sie. Zum Teil sind auch Essstörungen
Komorbiditäten. Bulimie beispielsweise komorbiert mit Alkoholsucht oder
Opiatabhängigkeit. Opiate reduzieren das Hungergefühl. Alkohol lässt
nach drei Litern Wein zum Beispiel keinen Platz im Magen und hat
außerdem ausreichend Kalorien.
VENTIL: Gibt es bei den illegalen Drogen neue Substanzen?
A: Es gibt ständig neue Substanzen, die in Labors in
Asien oder Europa produziert werden und übers Internet verkauft werden.
Dabei handelt es sich aber nicht mehr um die klassischen Suchtmittel wie
LSD, Kokain oder Amphetamine, die strafbar sind. Es wird zum Beispiel
nur eine chemische Kette der bekannten, strafbaren Substanzen verändert
und man bewegt sich nicht mehr im strafbaren Bereich. Man bezieht die
Suchmittel mit der Post. Auch künstlich hergestelltes, verändertes THC
ist im Umlauf, das wie Gras aussieht, aber eine andere chemische
Verbindung darstellt und straffrei übers Internet bestellt werden kann.
VENTIL: Erfährt man von den Patienten, wie und woher sie die Drogen beziehen?
A: Manchmal, aber nur vage. Viele erzählen auch von größeren Bestellungen, die dann verteilt werden.
VENTIL: Hat das auch den Konsum verändert? Ist man
nun sozusagen „unkommunikativer“ geworden im Suchtalltag? Trifft man
sich jetzt nicht mehr auf dem Umschlagplatz?
A: Vielleicht. Wir beobachten aber in jedem Fall, dass
es noch immer Communities gibt, die gemeinsam konsumieren. Es sind aber
andere Substanzen.
VENTIL: Gibt es neue Wirkungen?
A: Es sind ähnliche Wirkungen, da die bekannten
Substanzen nur minimal verändert sind. Es gibt antriebssteigernde
Substanzen, es gibt beruhigende. Es gibt Entaktogene mit starkem inneren
Erleben, also bewusstseinserweiternde Drogen. In den
Patientengesprächen ist mir aber nicht von völlig neuen Wahrnehmungen
berichtet worden.
VENTIL: Gibt es dominante Drogen?
A: Cannabis und Opiate. Sicher Crystal Meth, das nach wie vor Thema ist. Mephedron kommt und geht. Beides Amphetamine.
VENTIL: Was weiß man über Mephedron?
A: Es wirkt aufputschend, entaktogen und macht ein starkes Verbundenheitsgefühl.
Man schnupft, spritzt oder raucht das. Die Leute, die das konsumieren,
erkennt man am Geruch. Sie riechen ein wenig modrig, süß-säuerlich.
Die Konsumenten entwickeln nach Langzeitkonsum außerdem einen
Dermatozoenwahn. Sie haben das Gefühl, dass sich unter der Haut Tiere
befinden und kommen dann beispielsweise mit Kratzverletzungen, weil sie
sich deshalb die Haut perforiert haben. Das sind haptische
Halluzinationen.
VENTIL: Sind Opiate wie Heroin die Endstation in der Drogenkarriere?
A: Nicht unbedingt. Wenn jemand stabil substituiert
ist, wie man das nennt, sind diese Konsumenten gut in unserer
Gesellschaft integriert.
VENTIL: Was sind richtig schwierig zu behandelnde Süchte?
A: Polytoxikomanien. Da werden mehrere Substanzen
kombiniert, um eine Wirkung mit einer anderen abzulösen – zum Beispiel
„Benzos“, Opiate, Alkohol, Amphetamine. Diese Süchte sind schwer zu
behandeln. Hier muss man Prioritäten setzen. Welche Substanz entzieht
man zuerst? Wenn Alkohol im Spiel ist – dann zuerst vom Alkohol. Danach
macht man sogenannte „Teilentzüge“.
VENTIL: Wann kann man eigentlich von Sucht sprechen? Viele trinken und rauchen.
A: Es gibt Kriterien, die der Psychiater für seine
Diagnosestellung verwendet. Die findet man im ICD-10, im
Diagnoseklassifikationssystem. Das ist die Klassifikation, nach der wir
arbeiten. Da gibt es sechs Suchtkriterien. Erstens den Zwang, eine
Substanz zu konsumieren, das sogenannte Craving. Weiters nennt man
körperliche Entzugssymptome. Das Vernachlässigen von Interessen ist ein
Punkt. Ein Kriterium ist auch der Kontrollverlust, das heißt, man kann
beispielsweise nicht nach zwei Bier stoppen, sondern trinkt bis zum
Umfallen. Dazu gehört auch die Toleranzbildung. Das bedeutet, man
braucht immer größere Mengen. Und der sechste Punkt ist ein anhaltender
Substanzkonsum trotz schädlicher Folgen.
Alkohol als Substanz hat eigentlich kein hohes Suchtpotential. Sonst
wäre jeder bereits Alkoholiker. Eine Alkoholkrankheit entwickelt sich
mit der Zeit.
VENTIL: Wie entwickelt sich eine Alkoholabhängigkeit?
A: Zunächst hat man einen risikohaften Konsum. Die
Grenzen zwischen diesem problematischen Gebrauch und einer Abhängigkeit
sind fließend. Wenn es zu ungünstigen Umweltbedingungen oder
traumatischen Erlebnissen kommt, führt der Konsum von Alkohol auch bei
geringer Veranlagung rascher zu Abhängigkeit. Ziel ist, möglichst früh
entgegenzusteuern.
VENTIL: Ist Sucht immer heimlich?
A: Die Gesellschaft und die Betroffenen selbst sehen
Sucht oft als Schwäche und persönliches Versagen. Wer gibt schon gerne
zu, dass er abhängig ist? Am Anfang einer Sucht würde ich sagen „ja“.
VENTIL: Schockiert dich ein spezielles Suchtmittel?
A: „Schockieren“ nein. Ich persönlich finde die
Behandlung von Menschen, die illegale Substanzen konsumieren,
schwieriger. Die Illegalität ist ein Bereich, der mehr Lügen notwendig
macht. Bei legalen Substanzen wie Alkohol und Nikotin ist das anders,
einfacher – weil die Lüge wegfällt.
VENTIL: Wie stehst du zur Legalisierung von Cannabis?
A: Ambivalent. Es würde vielleicht einiges erleichtern,
wenn man es unter kontrollierten Bedingungen abgeben könnte. Ich denke
auch nicht, dass viel mehr Jugendliche rauchen würden. Allerdings ist es
nicht zu unterschätzen, weil es Psychosen beschleunigen und für das
Gehirn in der Entwicklung gefährlich sein kann.
Alkohol ist hier natürlich gleich gefährlich, aber er ist im Unterschied
zu Cannabis in unserer Kultur verankert, damit wächst man auf.
Verheerend sind die Folgeschäden von Alkohol. Nervenschäden,
Gehirnathrophien, Leberzirrhosen, Gangunsicherheit und Demenz bis hin
zum totalen Pflegefall.
Das ist bei Cannabis natürlich nicht zu erwarten. Schädigungen der
Atemwege sind aber nicht zu unterschätzen. Ein Joint ist
wissenschaftlich bewiesen so schädlich wie zehn Zigaretten.
VENTIL: Ich möchte noch eine ganz andere
Beobachtung anschneiden. Sehr viele Jugendliche ritzen oder leiden
heutzutage an Essstörungen. Was hat es eigentlich damit auf sich?
A: Ritzen hat mit Impulskontrolle zu tun. Es kommt
häufig bei emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen-beim
Borderlinetyp- vor. Beim Ritzen ist es sicher so, dass starke innere
Spannungen da sind und die Betroffenen keine anderen Möglichkeiten
haben, diese Spannungen abzubauen. Vermutlich haben sie solche nie
gelernt.
Bei der Bulimie ist der Entstehungsmechanismus ein anderer. Das hat viel
mit übertriebener Sorge um Körperform und Gewicht zu tun. Der
Selbstwert spielt eine große Rolle, auch die gestörte Körperwahrnehmung.
Häufig sind sehr ehrgeizige junge Menschen betroffen, die einen hohen
Anspruch an sich selbst haben.
VENTIL: Das sagt viel über unsere Gesellschaft aus. Vielen Dank fürs bewusstseinserweiternde Gespräch!
A: Gerne!